Semiramis – Kunstwerk des Monats Oktober 2004

Egerländer Kunstgalerie Marktredwitz

Semiramis - Kunstwerk des Monats Oktober 2004

Expressiver Ausdruck für eine mystische Legende

In der Schausammlung der Egerländer Kunstgalerie Marktredwitz ist seit Juli 2004 ein Neuzugang präsentiert: Das Ölgemälde mit dem Titel Semiramis des Malers und Grafikers Norbert Hochsieder, der aus Marienbad stammt. Dieses Exponat gehört zu der Kunstsammlung des Künstlers, die von seinem Sohn Dr. med. Peter Hochsieder in Nürnberg der Egerland-Kulturhaus-Stiftung für die Kunstgalerie geschenkt wurde. Zu dieser Kunstsammlung, die den künstlerischen Nachlass Hochsieders bildet, gehören 1.130 Grafiken und 26 gerahmte Bilder (Ölgemälde und Radierungen). Aus diesem Bestand ist zunächst das Ölgemälde Semiramis in der Schausammlung präsentiert. Ob es endgültig dort ausgestellt werden soll, wird noch die von der Stiftung bestellte Jury entscheiden.

Die Bildmitte wird von einem Drachen ähnlichen Phantasiegebilde, das von einer Wolke getragen von links hinten nach rechts vorn durch die Luft zu fliegen scheint, geprägt. Dieses Gebilde ist vor allem durch einen nach rechts zeigenden Kopf mit großem hervor tretenden Auge und steil nach oben gerichteten Ohren sowie durch ein aufgesperrtes Maul mit weißen Zähnen und herausgestreckter Zunge gekennzeichnet. Außerdem sind diesem Gebilde rechts und links flügelartige gewölbte Schwingen angefügt. Die rechte Schwinge ist mit einem gelbroten Punkt geschmückt. Die linke Schwinge ist blauweiß und wirkt wie aufgeblasen. Dieses von einem Blauton beherrschte drachenartige Gebilde ist seitlich und oben umgeben von einem skurrilen Formengeflecht, in das menschliche Gesichter in Miniaturgröße eingefügt sind. Am linken Bildrand ist ein schwarzer Schädel mit rotem Mund auszumachen. Am oberen Bildrand über dem Drachenkopf ist ein kleines rundes Gesicht mit schwarzem Haar eingefügt. Am rechten Bildrand lächelt ein gelbes Gesicht, das auf einer Schattenfigur sitzt, die bis zum unteren rechten Bildrand reicht. Der Wolkenwulst in der Bildmitte, auf dem der Drache sitzt, teilt das Bild zugleich in eine obere und untere Zone. In der unteren Zone sind links kleinteilige Frauengestalten zu erkennen. Die vorderste Gestalt trägt einen breitrandigen Hut auf dem Kopf und ist mit einem schulterfreien Kleid bekleidet. Rechts neben ihr steht eine madonnenhafte Gestalt mit einem Kind auf dem Arm, von der aus nach rechts wiederum Formen angeordnet sind, die Zerstörung und Chaos andeuten. In diesen ist unten rechts erneut eine menschliche Gestalt mit  roten Kugeln im Arm haltend. Sie sitzt vor der oben erwähnten Schattenfigur am Bildrand. Diese untere Bildzone ist durch einen hellblauen Hintergrund gekennzeichnet und dadurch gegen die obere Bildzone hervorgehoben. Die gesamte Darstellung wird durch eine schwungvolle Linienführung und kräftigen Pinselstrich geprägt.

Das Kunstwerk belegt eindrucksvoll die reiche Phantasie des Künstlers, die ihn befähigt, Visionen mit unerschöpflicher Kreativität und mit großem Elan ins Bildhafte umzusetzen. In seinen Darstellungen, so auch in dieser, wird deutlich mit welcher Intensität er ständig nach neuen und perfekteren Ausdrucksformen sucht. Bei ihm machen sich die Einflüsse seiner Lehrer und Freunde und die vielen Eindrücke, die er in seiner Studienzeit und auf ausgedehnten Reisen gewonnen hat, bemerkbar. Nicht zuletzt prägen ihn  auch die Eindrücke aus seiner Heimat in Marienbad, dem in der „toten Zeit“ verschlafenen, kleinbürgerlichen Städtchen und dem gesellschaftlich großspurigen Weltbad in der Saison, in der auch Vergnügungssucht und perfide Auswüchse menschlichen Verhaltens sichtbar werden. Dem mit intensiven  Studien der antiken Legenden und Mythen beschäftigten mag diese Ambivalenz seiner Heimatstadt den Anstoß zur Darstellung von Phantasien zu dem Thema „Semiramis“ und zu dem offenbar zeitgleich entstandenen „Drachenpalast“ gegeben haben. Semiramis ist  nach der Darstellung der antiken Historiker eine von außer-gewöhnlicher Schönheit  geprägte assyrische Frauengestalt, die Schöpferin der berühmten  hängenden  Gärten bei Babylon, dem zweiten der sieben Weltwunder, ist.

Zugleich ist diese Frauengestalt die Mörderin ihres königlichen Gemahls, der ihr wegen ihrer Schönheit verfallen ist, ihren Wunsch nach Übertragung einer umfassenden Befehlsgewalt erfüllt und Opfer ihres Mordbefehls wird. Wegen dieses Meuchelmords wird sie schließlich Ziel der Rache ihres eigenen Sohnes Ninyas und wird zu den Göttern entrückt. Diese Legende war offenbar geeignet, die Phantasie des Künstlers anzuregen und ihn zu einer der scheinbaren Wirklichkeit entrückten Darstellung zu inspirieren. Hochsieder versteht es die mythische Legende der Semiramis in unrealistische Figurationen und Farbenklänge umzusetzen und seinem Erleben der Legende in unrealistischer Weise Ausdruck zugeben. Er folgt damit auf seine Weise dem Stil des Expressionismus, von dem er durch Emil Nolde, Otto Dix, Max Pechstein und Otto Mueller in der Neuen Sezession beeinflusst wurde.

Norbert Hochsieder ist 1879 in Marienbad geboren. Er entstammt einer Familie, die bereits im 13. Jahrhundert von Passau kommend ins Egerland nach Falkenau einwanderte. Der Vater des Künstlers übersiedelte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das aufstrebende Marienbad und war als Handwerker erfolgreich. Nach dem Besuch der Staatsfachschule In Teplitz-Schönau studiert Norbert Hochsieder in den Wintersemestern an der Akademie der Bildenden Künste in Dresden, während er sich zugleich um seine fünf Geschwister, um die Erhaltung des väterlichen Betriebs und um den Bau eines Hotels kümmert. Anschließend setzt er seine Studien an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Franz von Stuck, Arnold Böcklin und Max Klinger fort. Bei Studien in Berlin lernt er Adolf Menzel, Heinrich Zille, Max Liebermann, Franz von Lenbach, Friedrich August von Kaulbach u. a. kennen. Schließlich setzt er seine Studien in Paris fort und kann mit Henri Matisse bekannt werden. Er erhält für sein Gemälde Raub der Sabinerinnen einen ersten Preis. Er schließt sich dann der Neuen Sezession mit den oben genannten Künstlern an. Dies bedeutet für ihn zugleich eine Loslösung von den Vorbildern vergangener Studienjahre. Zudem unternimmt er ausgedehnte Reise nach Nordafrika und lebt in der Oase Bou-Saade. Nach Marienbad zurückgekehrt stellt er den begonnen Bau eines Hotels fertig. 1911 heiratet er.

Norbert Hochsieder wird dann noch in Prag zusammen mit Josef Hegenbarth Meisterschüler bei dem aus Franzensbad stammenden August Brömse, dem Leiter der Grafikklasse, der für den Aufbruch der Egerländer Künstler in die Moderne steht. Es folgen vor und nach dem ersten Weltkrieg  zahlreiche Reisen nach Spanien, Frankreich, Polen, Österreich, Ungarn, Italien und in die Schweiz. Inzwischen ist Hochsieder als freischaffender Maler und Grafiker erfolgreich und seine Werke werden in den europäischen Hauptstädten Paris, London, Prag und Berlin sowie in Dresden und München ausgestellt. Viele seiner Werke werden angekauft, allein von der Staatsgalerie in Prag hundert, weitere in München, Berlin, London und Paris. Einen Schwerpunkt seiner Arbeiten bilden Radierungen mit neu entwickelten Techniken. Hochsieder ist Gründungsmitglied des Metzner-Bundes. In Marienbad regt er gesellschaftliche und kulturelle Veranstaltungen an, die zu einer zeitweiligen Hochblüte des Kurbetriebs um 1900 führen.

Im ersten Weltkrieg wird er zum Kriegsdienst herangezogen und überlebt mit erheblichen Gesundheitsschäden als mehrfach ausgezeichneter Hauptmann Einsätze an der West- und Ostfront. Nach dem zweiten Weltkrieg wird er aus der Heimat vertrieben und findet in Ansbach seine zweite Heimat. Dort wird er im Verband der Bildenden Künstler Bayern e.V. tätig und wegen seiner Verdienste Ehrenmitglied. In Ansbach gründet er mit seinem Freund, dem Porzellanskulpteur Waldemar Fritsch, die Künstlervereinigung „Die Barke“, in der sich Ansbacher und heimatvertriebene Künstler zu einem außerordentlich schöpferischen Kreis zusammen finden. Er wird als Altmeister des Expressionismus der Egerländer Künstler gefeiert.

In 1958 verstirbt Norbert Hochsieder in Ansbach.