Sterbender Pierrot – Kunstwerk des Monats März 2007

Egerländer Kunstgalerie Marktredwitz

Sterbender Pierrot

Sterbender Pierrot - Kunstwerk des Monats März 2007

„Kinder, ich kann mich vor Glück gar nicht fassen“, sagte der Bildhauer und Keramiker Willy Russ, als er 1960 in der Ausstellung „Deutsche Künstler aus dem Sudetenraum“ in Schweinfurt einige seiner verloren geglaubten Arbeiten wiederentdeckte. Darunter befand sich auch eines seiner ausdruckstärksten figürlichen Werke: Der „Sterbende Pierrot“ aus den 1930er Jahren. Dieser war zusammen mit Exponaten bedeutender Künstler wie Oskar Kokoschka, Alfred Kubin oder Waldemar Fritsch zu sehen.

Die vollplastisch ausgearbeitete und mehrfarbig glasierte Tonfigur (H 45 cm, B 55 cm,T 45 cm) besticht durch ihre Ausdrucksstärke. Der Pierrot erscheint in sitzender gebeugter Haltung mit verschränkten Beinen. Das eng anliegende gelbe Kostüm mit den fein modellierten Gewandfalten unterstreicht die hagere Figur. Kontraste bilden die schwarzen gekrausten Besatzteile an Kragen, Ärmel und Hosenbeinen sowie die drei schwarzen knopfartigen Zierbommeln. Die Kraftlosigkeit des Körpers wird durch die abgestützte Armhaltung, die abgewinkelten Hände und den nach rechts auf die Schulter geneigten Kopf wiedergegeben. Der dramatische Gesichtsausdruck mit dem leicht geöffneten Mund und den geschlossenen Augen lässt die Todesnähe erahnen. Das Zusammenspiel zwischen der relativ grobkörnigen Tonmasse und dem transparenten fayenceartigen Glasurauftrag ist ein typisches Gestaltungsmittel des Künstlers. Damit gelingt es ihm, die expressive Wirkung der Figur noch deutlich zu steigern. Spürbar wird hierbei, dass er Bildhauer und Keramiker in einer Person vereint. Mit seinem „Sterbenden Pierrot“ begibt sich Willy Russ sozusagen auf eine expressive Ebene, indem er bestrebt ist, den seelischen Zustand zu veranschaulichen. Was bereits in Italien in der Commedia dell´ arte des 16. Jahrhunderts als schwermütige Pierrotfigur seinen Anfang nahm, auf Pariser Theaterbühnen im 19. Jahrhundert eine Weiterentwicklung erfuhr, setzt Willy Russ im 20. Jahrhundert in eigener Umsetzung fort: Als „Sterbende Pierrot“, der gerade seinem Schmerz erliegt. Willy Russ kann nicht den Vertretern des Expressionismus zugeordnet werden, hat er sich doch in seiner künstlerischen Laufbahn unterschiedlichen Stilrichtungen verschrieben.

Willibald Russ (Künstlername Willy Russ) wurde 1888 in Schönfeld im Egerland (heute Krásno nad Teplou) geboren. Sein künstlerisches Talent sowie ein Stipendium ermöglichten den Besuch der Fachschule für Keramik in Teplitz-Schönau. Nach der vierjährigen Ausbildung im Zeichnen und Modellieren führte ihn der Weg in die Kulturmetropole Wien zum Studium der Bildhauerei. Damit kam Willy Russ ab 1906 in eine spannungsreiche künstlerische Szene, die geprägt war von der noch jungen Wiener Werkstätte. Der 18-jährige Künstler muss wohl in dieser Zeit mit den führenden Persönlichkeiten dieser neuen angewandten Kunst wie Joseph Hofmann oder Koloman Moser zusammengetroffen sein. An der Kunstgewerbeschule legte er einen Schwerpunkt seiner Ausbildung auf die Bildhauerei. 1910 machte sich Willi Russ selbstständig und richtete sich in Wien ein eigenes Atelier ein. Seinen ersten großen Auftrag erhielt er aus dem niederösterreichischen Berndorf von der Industriellenfamilie Krupp. Es handelte sich um eine Bronzebüste Adolf Krupps für dessen Gedenkstätte. Dies lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf Willy Russ und brachte ihm weitere bedeutende Aufträge ein, wie keramische Bauplastiken, Fassadengestaltungen oder Denkmäler. Durch den engen Kontakt zu dem Architekten Ernst Lichtblau avancierte er zu einem gefragten Künstler in Wien.

Nach der Heirat mit der ebenfalls künstlerisch begabten Anna Ruppert kehrte er 1920 in die gemeinsame Heimat nach Schönfeld zurück, wo er sich eine keramische Werkstatt einrichtete. Ein eigener Brennofen trieb ihn zu immenser schöpferischer Tätigkeit an, wobei der Einfluss der Wiener Stilrichtungen spürbar blieb, zumal er auch nach dem Weggang aus Wien weiterhin für Wiener Werkstätten wie Karau verschiedenste Kunstwerke aus Keramik schuf.

In den folgenden Jahrzehnten entstand eine breite Facette von unterschiedlichen Keramiken. Bedeutung erlangten seine Entwürfe für Denkmäler wie beispielsweise die Goethe-Statue in Marienbad. Ob Gebrauchskeramik und Figuren im Stil des Art deco, seine lebhaft glasierten Plastiken, die zahlreichen Kruzifixus- oder Mariendarstellungen oder die derben bäuerlichen und bodenständigen Charaktere der Szenen in den Ofenkacheln des bekannten „Egerländer Kachelofens“, der heute auf der Egerer Burg zu sehen ist: Willy Russ modellierte diese Figuren mit seiner typischen anmutigen und lebendigen Gestaltungsweise. 1946 wurde der Künstler mit seiner Familie aus dem Egerland nach Unterfranken vertrieben. Bis zu seinem Tod 1974 konnte er aufgrund finanzieller Engpässe und einer gesundheitlichen Einschränkung nicht mehr an seine frühere Schaffensphase anknüpfen.

Willy Russ und der aus Marienbad stammende Expressionist Norbert Hochsieder (1879-1958) verband eine lange künstlerische Freundschaft. In den 1930er Jahren besuchte Norbert Hochsieder häufig das Atelier von Willy Russ in Schönfeld und erwarb dabei auch einige seiner Plastiken. Norbert Hochsieder gelang es, im Jahr 1946 den „Sterbenden Pierrot“ seines Freundes mit über die Grenzen nach Bayern zu retten. Der Kontakt der beiden Künstler brach nach der Vertreibung ab. 2005 kam diese wertvolle Plastik als Leihgabe für eine Willy-Russ-Ausstellung nach Marktredwitz. Schließlich ging sie 2006 als Schenkung von Dr. Peter Hochsieder, dem Sohn Norbert Hochsieders, in den Besitz des Egerland-Museums über.

Als Kunstwerk des Monats März 2007 ist sie in der Egerländer Kunstgalerie zu sehen.